Spielzeugtag!

Storytelling gehört in jeden gut sortierten Werkzeugkasten für Kommunikation, Wissensmanagement und Marketing – denn wenn komplexe Inhalte gut erfassbar dargestellt und Werte oder emotionale Botschaften kommuniziert werden sollen, ist es oft das Mittel der Wahl, sie mit einer Geschichte zu erzählen.

Storytelling ist dabei aber viel mehr als nur ein effektiver Trick. Wer einfach nur mit einer netten Geschichte Aufmerksamkeitspunkte machen und den Leute möglichst noch etwas unterjubeln will, woran sie zunächst mal kein Interesse haben, verpasst das Potenzial von Storytelling. Überhaupt sollte man öffentliche Kommunikation nicht als Belagerung verstehen und die Finger von trojanischen Pferden lassen, aber das ist ein anderes Thema.

Gutes Storytelling ist Beziehungspflege: Die beste Geschichte erzählt, wer versteht, was für die Adressat’innen der Botschaft relevant ist; wer in ihrer Lebenswelt zu Hause oder mindestens gern gesehen ist; wer es schafft, sich einzudenken und einzufühlen. So findet sich dann auch der Punkt, an dem die Geschichte am besten beginnen kann. Gutes Storytelling nimmt Menschen als komplexe Wesen an und arbeitet mit Ebenen, die mit der eigentlichen Kaufentscheidung (oder dem anderen intendierten Verhalten) zunächst einmal wenig oder nichts zu tun haben.

Eines der besten Storytelling-Beispiele, die ich kenne, ist die folgende Eltern-Info aus einem Kindergarten – genauer aus der KITA „Rabatz“ im thüringischen Kranichfeld. Das ist kein Zufall – zum einen, weil ich das Blatt an der Kita-Pinwand gesehen habe, als ich meine Tochter abholte. Zum anderen aber sind Kindergärten eine Art natürliches Habitat von Storytelling, denn gute Kommunikation mit Kindern besteht über weite Strecken in nichts anderem als reinem Storytelling. Und Übung in dieser Methode ist auch dann nützlich, wenn man einmal ernste Worte an die geneigte Elternschaft zu richten hat:

Da gibt es wirklich kaum etwas zu verbessern, aber umso mehr zu loben. Und weil dem so ist, widme ich diesem Text eine kleine Stilanalyse.

Wirksamer Stil: Weniger ist mehr

Schon der Einstieg „Im RABATZ“ eröffnet mit denkbar einfachen, sofort fassbaren sprachlichen Mitteln einen erzählenden Kontext: Hallo Eltern, hier kommt ein bisschen Live-Info aus dem Alltag eurer Kinder! Wer würde da nicht weiterlesen – selbst im Vorbeigehen bleibt man an der Headline hängen, obwohl die Seite insgesamt ziemlich textlastig ist. Die Märchen-Formel „Es war einmal …“ suggeriert dann putzige Geschichtchen und Anekdoten, die man wenigstens als Mensch mit Kindern immer gern hört und auch liest. Unterstützt von der anspruchslos-niedlichen Spielzeug-Illustration oben rechts lehnt man sich innerlich erst einmal entspannt zurück und freut sich auf gute Unterhaltung.

Dann aber geht es Schlag auf Schlag, in einem mustergültig nüchternen, klaren Stil, der die Wahrnehmung kleiner Kinder sichtbar macht, ihre Lebensrealität erfasst und für die Erwachsenen übersetzt. Das gelingt vor allem deshalb so gut, weil der Text das richtige Maß trifft und die Erzählung nicht überfrachtet, z. B. mit ablenkenden Details oder einem unangemessenen Einsatz rhetorischer Mittel. Deshalb ist auch so deutlich erkennbar, wie der Text seine Rezeption steuert und sicherstellt, dass die Eltern ihn nicht als Informationsschreiben o. dgl. missverstehen, sondern sich auf die Erzählung einlassen.

Merkmale dieses guten Stils sind unter anderem

  • das Zitat der allgemein bekannten, typischen Einleitung der Textgattung Märchen;
  • der Bezug zu einer Abbildung, die ihrerseits stark atmosphärisch ist, etwa im Unterschied zu einem Diagramm oder einer Tabelle;
  • die Verwendung von Präteritum und wörtlicher Rede, beides klassische Strukturmomente erzählender Textgattungen.
  • Und nicht zuletzt ist das Überraschungsmoment, der Bruch mit der gezielt hervorgerufenen Erwartung einer beschaulichen KITA-Geschichte eine effektive Methode der Erzählung.

Natürlich bildet die Fallhöhe zwischen märchenhaft-anekdotischem Anfang und lakonisch-traurigem Ausgang der ersten Episode die Enttäuschung ab, die in allen folgenden Szenen eine wichtige Rolle spielen wird. Aber eben nicht nur das: Der Aufbau und der dramatische Bruch einer Stimmung ist ein literarisches Verfahren, das dem Leser signalisiert: Folge mir durch diese Geschichte, und suche selbst nach ihrem Sinn.

Das ist ein wichtiger Punkt, der in vielen Reflexionen über Storytelling IMHO recht kurz kommt: Das Repertoire sprachlicher Mittel ist enorm groß, mit dem wir bei den Leser’innen eine Rezeptionshaltung fördern können, die für das Ziel der Erzählung günstig ist; anders gesagt: dass sie überhaupt erst ansprechbar werden für die Story, die wir erzählen wollen, und für ihren beabsichtigten Sinn. Dabei geht es keineswegs um Nebensächlichkeiten, wenn die einzelnen Stilmomente je für sich auch entbehrlich sein mögen. Ohne den gekonnten, ausbalancierten Einsatz dieser Mittel ist der Erfolg einer Erzählung mehr als fraglich.

Zeigen, nicht behaupten

Weiterhin leisten diese kleinen Episoden einen unschätzbar wichtigen PR-Dienst für die Kita und ihre Träger-Organisation: Die Geschichten beweisen pädagogische Kompetenz und Aufmerksamkeit, eben weil sie so detailgenau, facettenreich und klar geschrieben sind. Genau so zeigt man in gelungenem Storytelling die Kompetenz von Mitarbeitern, ohne auch nur ein einziges direktes Wort darüber verlieren zu müssen. Gute Ausbildung, langjährige Erfahrung, Engagement, richtiges Arbeitsklima, ein wacher Blick für das einzelne Kind … was man auch sonst noch hervorheben könnte: Das alles liegt hier auf der Hand und muss nicht weiter erwähnt werden. Die Erkenntnis, dass all das zutreffen muss, entsteht in den Leser’innen – und ist deshalb viel wirksamer als jede gute Eigenschaft, die ihnen vorgesetzt wird und erst noch eines Beweises aus der Praxis bedarf.

Ein perfekt gewähltes Stilmittel ist zudem die Aufteilung der Szenen auf die fünf Betreuungstage der Woche. So bleibt die Perspektive auf das individuelle Dilemma der einzelnen Kinder gewahrt, die vielfältigen, unterschiedlichen Problemstellungen können nachvollziehbar erzählt werden – und dennoch bekommt das zugrunde liegende Problem eine angemessene Ausdehnung: Es bestimmt bald den gesamten Alltag in der KITA. Um wieviel schwächer wäre es, einfach zu sagen: „Wir haben jeden Tag Ärger mit Spielzeug von zu Hause.“ So undifferenziert und leicht genervt im Ton würde das keiner für voll nehmen. Auch die naheliegende Idee, die Szenen auf eine Person zu bündeln (etwa indem sie aus Sicht einer einzigen Erzieherin erzählt werden, die im Verlauf möglichst noch eine „Heldenreise“ durchläuft) halte ich dem gegenüber für ungünstig. Für alle Tage von Montag bis Freitag eine ganz eigene Geschichte erzählen zu können, und am Ende vor mehr als fünf traurigen Kindern zu stehen – das hat Wucht!

Eine Info – dreimal nützlich, dank Storytelling

Im Ergebnis leistet die Geschichte im ersten Teil des Aushanges also drei nützliche Dinge:

  • Sie bietet Information über Probleme, die vielen Eltern sicher nicht bewusst waren,
  • sie fördert das Image der Einrichtung und
  • stärkt zu guter Letzt noch das enorm wichtige und sensible Beziehungsgeflecht rund um die Betreuungs-Dienstleistung.

Denn nicht nur die Eltern werden eingeladen, den Erzieherinnen zu vertrauen, die sich hier äußern, sondern auch die Kinder bekommen zusätzliche elterliche Aufmerksamkeit vermittelt, und zwar in einem Bereich, der Eltern zwangsläufig immer nur zu einem geringen Teil zugänglich ist – sie sind ja nicht dabei im Kita-Alltag. Auch die Beziehung zwischen Erzieherinnen und Eltern profitiert, vor allem, da erstere sich nicht für sich selbst beklagen. Sie suchen vielmehr einen Weg, ein allgemeines Problem auch allgemein zu kommunizieren. Gerade damit tun sich übrigens viele Insitutionen und auch Unternehmen schwer, z. B. im Beschwerde- und Reputationsmanagement. Dabei gibt es gerade hier so viele Punkte zu sammeln, und gute Erzählkompetenzen können wichtige Brücken bauen. Dazu aber in einem anderen Beitrag mehr.

Ganz in diesem Sinne appelliert der zweite Teil des Briefes zuerst an einen gemeinsamen Wert: „Wir aber wollen im ‚RABATZ‘ glückliche Kinder.“

Punkt. Das können definitiv alle unterschreiben.

Die folgende Liste fasst die Erzählung des ersten Teils zusammen und bietet nun eine Übersicht der sechs Punkte, die an mitgebrachtem Spielzeug im Kindergarten problematisch sind. Natürlich ist dieser Wechsel in eine informierende Textform ein Bruch mit der fiktionalen Geschlossenheit der erzählten Geschichte; die Auswertung des Storytelling beginnt sozusagen sofort, im Text. Ähnliche Wendungen sind Teil dieser Textstrategie, die auch in ganz anderen Kontexten sinnvoll ist, z. B., wenn eine gut erzählte Produktbeschreibung in eine übersichtliche Darstellung der wichtigsten Eigenschaften, Preise oder Bestellkonditionen mündet. Dabei ist eine Aufzählung nun ein sehr geeignetes Mittel, um das Gesagte zu fokussieren und in eine – allein schon durch die grafische Gestalt des Satzes – gut merkbare Form zu bringen.

Die erzählerische Reduktion der Szenen bewirkt zudem, dass die Eltern nun wieder dezidiert als Erwachsene angesprochen werden. Der Text wird abstrakter, und übergeordnete Werte kommen in den Blick; Intentionen werden jetzt ausformuliert und ersetzen die bindende Kraft der narrativen Strukturen: Es gehe darum, die Kinder „vor übermäßigem Konsum- und Konkurrenzverhalten“ zu schützen. Auf dieser Ebene werden nun die Beziehungen zwischen den (appellierenden) Erzieherinnen und Eltern erneut wichtig, bzw. sogar die zwischen den Eltern untereinander: Der „Hilferuf“ ist dabei ein sehr gutes Mittel, dem Anliegen größere moralische Verbindlichkeit zu geben; anders gesagt: Der Text nimmt hier sehr gekonnt die Kurve hin zu einer Aufforderung, die im letzten Teil in schönster Unmissverständlichkeit und mit erheblicher Lautstärke zusammengefasst wird:

„Deshalb bleibt das Spielzeug zu Hause!!!“

Was schon erheblich mehr ist als „… möchten wir unser Anliegen an Sie herantragen und bauen auf ihre tatkräftige Unterstützung“. Auch die folgende Regelung des Spielzeug-Tages ist wie ein Dekret formuliert, das eigentlich nicht diskutierbar ist. Und das, wo Eltern doch so gern diskutieren … Diese Steigerung (rhetorisch: Klimax) auf engstem Raum am Ende des Textes ist ein gekonnt geschriebener Holzhammer, der hier auf die lesende Mama, den lesenden Papa niedersaust – aber wer, bitteschön, möchte einem solchen Appell noch etwas entgegnen. In einer Marketing-Perspektive ist das nichts anderes als ein wunderschöner, klartextiger Call-to-Action (CTA). Genau wie all die verführerischen Buttons und säuselnden Kaufmichjetzt-Links in gut optimierten Online-Shops. Die sagen ja auch nicht viel mehr als ein verklausuliertes „Deshalb wird das jetzt gekauft!!!“

Fazit

Wie viel man aus einem einzigen, zudem unerfreulichen Kommunikationsanlass herausholen kann, zeigt das kluge und beeindruckend ausgeführte Storytelling in diesem Beispiel aus dem Kindergarten. Man stelle sich vor, der Text wäre in umgekehrter Reihenfolge aufgebaut, wofür ja erst einmal einiges sprechen könnte: Ganz oben die neue Regelung mit dem dringlichen Appell, die Sachen doch bitte zu Hause zu lassen; dann eine Stichwortliste mit allen wichtigen Punkten, und dann zur Verdeutlichung noch ein paar Beispiele aus dem Alltag – die am Ende kaum jemand lesen würde, und wenn, dann in einer vollkommen anderen Haltung.

Ginge ja wohl gar nicht? Eben.